Spielanalyse
Spätes Eigentor – Frankreich steht im Viertelfinale
Wie sich die Franzosen gegen sehr defensive Belgier durchsetzten.
Marius Fischer
Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Leiter der Analyseabteilung bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.
Auf dem Papier war es das Topspiel der Achtelfinals: Turnierfavorit Frankreich gegen Belgien – mit der vielleicht letzten Chance für die Roten Teufel, mit ihrer goldenen Generation um Kevin De Bruyne und Romelu Lukaku ein Turnier zu gewinnen. Es entwickelte sich eine enge Partie, in der Frankreich deutlich mehr Spielanteile und Chancen hatte, jedoch erst spät durch ein Eigentor von Jan Vertonghen den Siegtreffer erzielte.
Kompaktheit statt Pressing
Vor allem in der ersten Halbzeit waren beide Teams bemüht, so kompakt wie möglich zu stehen. Am Ende lagen die PPDA-Werte (Pässe pro Defensivaktion) bei 16.65 (Frankreich) und 21.80 (Belgien) – beide Mannschaften gingen nur selten in ein hohes Pressing und ließen dem Gegner sehr viel Zeit und Raum im Spielaufbau. Bei den Belgiern ergab sich strukturell ein 4-4-2, bei dem die beiden Stürmer Romelu Lukaku und Lois Openda darauf bedacht waren, keine Pässe ins Zentrum zuzulassen. Pässe in die Außenspur wurden zumeist von den Außenverteidigern zugelaufen, um einen sofortigen Rückpass zu provozieren. Auch wenn die Belgier nicht hoch pressten, versuchten sie dennoch, den Ballbesitzenden so zuzustellen, dass er keinen präzisen Pass hinter die Abwehrkette auf die schnellen Kylian Mbappé und Marcus Thuram spielen konnten. Trotz dieses kompakten Ansatzes schafften es die Franzosen regelmäßig, durch ihre individuelle Qualität ins Angriffsdrittel vorzudringen.
Belgien verteidigt im 4-4-2 Mittelfeldpressing und verschiebt kompakt mit dem Pass in die linke Außenspur.
Dadurch erzwingen sie einen Rückpass ...
... und verschieben nach der gegnerischen Seitenverlagerung wieder in die rechte Außenspur.
Upamecano passt zu Saliba. Belgien verschiebt kompakt und ballorientiert im 4-4-2.
Saliba passt in die linke Außenspur zu Hernández, ...
... der einen Doppelpass mit Mbappé ins Angriffsdrittel hinein spielt.
Kompaktes Zentrum und verwaiste Halbspuren
Frankreich agierte ähnlich passiv aus einer 4-3-3-Struktur heraus. Oftmals positionierten sich die Außenspieler Kylian Mbappé und Antoine Griezmann so tief, dass sich eher ein 4-5-1 ergab. So gab es für die Belgier zwar sehr viel Raum im Spielaufbau, jedoch nur wenig zwischen den Linien. Kevin De Bruyne ließ sich daher vor allem in den ersten 45 Minuten immer wieder tief in den Aufbau fallen, konnte von dort aber nur selten für gefährliche Aktionen sorgen, da es ohne ihn weiter vorne an Passoptionen in der Halbspur mangelte. Folglich versuchte man es häufig mit langen Bällen auf Zielspieler Romelu Lukaku oder hinter die französische Abwehrkette. Im Gegensatz zu den Belgiern hatten die Franzosen damit jedoch kein Problem und forcierten diese Zuspiele sogar, da sie über eine sehr zweikampf- und kopfballstarke Verteidigung verfügen, die die meisten Versuche souverän klären konnte.
De Bruyne wird in der linken Halbspur angespielt und von Kanté angelaufen.
Durch seine tiefe Positionierung fehlt De Bruyne zwischen den Linien, so dass er einen hohen Diagonalpass in die Außenspur auf Castagne spielen muss, ...
... der nicht unter Kontrolle gebracht werden kann.
Wout dribbelt an. Frankreicht agiert passiv im 4-5-1.
Mit dem Pass zu Onana erhöht Frankreich sofort den Druck und zwingt ihn zum Rückpass. Thuram stellt den Passweg zu De Bruyne zu.
Faes spielt einen langen Ball, der von Hernández abgefangen wird.
Rotationen und Tiefenläufe
Die Tatsache, dass Frankreich im bisherigen Turnierverlauf noch keinen eigenen Treffer aus dem Spiel erzielen konnte (zwei Eigentore und ein Elfmeter) liegt vor allem an der mangelnden Effizienz. Zehn Großchancen hat die Mannschaft von Trainer Didier Deschamps bereits herausgespielt (Rang Fünf) – neun davon wurden jedoch vergeben. Und auch gegen Belgien kombinierten sich die Franzosen mehr als doppelt so oft als ihr Gegner ins Angriffsdrittel und in den Strafraum. Die Équipe Tricolore agierte mit vielen Positionsrochaden und Tiefenläufen und sorgte so im Offensivspiel trotz der bewusst auf Sicherheit ausgelegten, defensiven Grundausrichtung für Dynamik. Rechtsverteidiger Koundé fungierte dabei häufig als Zielspieler für hohe Verlagerungen gegen eng stehende Belgier, während das Offensivtrio gerne die Positionen tauschte und sich häufig in den Halbspuren aufhielt.
Tchouaméni spielt einen hohen Diagonalpass auf Koundé.
Koundé flankt an den ballnahen Pfosten auf Thuram, ...
... der knapp am Tor vorbei köpft.
Kolo Muani lässt sich in die Halbspur fallen und wird von Saliba angespielt.
Kolo Muani verlagert in die rechte Außenspur zu Koundé, ...
... dessen flache Hereingabe von Mbappé übers Tor geschossen wird.
Langweilig oder kontrolliert?
Trotz des Weiterkommens gibt es Kritik an den Auftritten der Franzosen. Immer noch kein selbst erzieltes Tor aus dem Spiel heraus und auch der defensive, pragmatische Ansatz von Trainer Didier Deschamps wird laut einigen Experten dem hochklassigen Kader nicht gerecht. Dennoch kombinieren sich die Franzosen sehr häufig bis vors gegnerische Tor – in fast allen offensiven Metriken gehören sie zu den besten Mannschaften des Turniers. Einzig die Chancenverwertung ist bisher ein großes Manko. Können sich die Franzosen in diesem Aspekt verbessern und bleibt die Defensive so stark wie bisher, haben sie gute Chancen, die erste Europameisterschaft seit 2000 zu gewinnen.