Spielanalyse
Dank Jokertor – Spanien ist Europameister
Mikel Oyarzabal trifft spät zum 2:1-Sieg und macht Spanien zum Europameister.
Marius Fischer
Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Leiter der Analyseabteilung bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.
Die Spanier wurden ihrer Favoritenrolle im Finale gegen England gerecht und gewannen am Ende verdient mit 2:1. Das Expected Goals Ergebnis von 1.95 zu 0.59 bestätigt die klare Überlegenheit der Iberer. Durch den Titel ist Spanien nun alleiniger Rekordhalter mit vier gewonnenen Europameisterschaften.
Chancenarme erste Halbzeit
Trotz 70 Prozent Ballbesitz taten sich die Spanier in der ersten Halbzeit schwer, klare Chancen zu kreieren. England verteidigte sehr tief und agierte erneut sehr sicher in der Strafraumverteidigung. Am Flügel wurde zumeist gedoppelt, sodass die spanischen Offensivstars Lamine Yamal und Nico Williams nur wenige Möglichkeiten hatten, ihr Tempo und ihre Dribbelstärke auszuspielen. Durch die verletzungsbedingte Auswechslung von Rodri zur Pause und die frühe Führung zu Beginn der zweiten Halbzeit öffnete sich das Spiel in der zweiten Spielhälfte etwas und es gab jetzt häufiger Raum für Kontergelegenheiten der Spanier. Fünf Großchancen und ein Expected Goals Wert von 1.66 veranschaulichen dies. Englands Ausgleich durch Einwechselspieler Cole Palmer kam mehr oder weniger aus dem Nichts und die Engländer konnten das Momentum des Treffers nicht in die weitere Spielzeit "mitnehmen".
Andribbeln der Innenverteidiger
Um die Struktur der sehr tief verteidigenden Engländer zu durchbrechen und für Dynamik zu sorgen, nutzten die spanischen Innenverteidiger den freien Raum vor ihnen und dribbelten aggressiv an. Gleichzeitig ließ sich Stürmer Morata immer wieder in die Halbspur fallen, um für eine zusätzliche Anspielstation zwischen den Linien zu sorgen. Generell agierte Spanien mit vielen Positionswechseln und Tiefenläufen, da die Engländer durch ihr Mittelfeld- und Abwehrpressing wenig Risiko eingingen und den Iberern nur wenig Raum ließen. Spaniens Flügelspieler positionierten sich häufig in der Halbspur, während die Außenverteidiger hochschoben. Das sorgte in einigen Sequenzen für Zuteilungsprobleme in der englischen Verteidigung.
Laporte passt zu Le Normand, der nach vorne andribbelt.
Le Normand passt in die Halbspur zu Morata, der auf Olmo klatschen lässt.
Olmos Flanke findet jedoch keinen Abnehmer.
Rodri passt zu Laporte, der nach vorne andribbelt.
Laporte passt in die Halbspur zu Williams, der auf Morata weiterleitet.
Moratas Schnittstellenpass wird abgefangen.
Fehlende Kontergefahr
Spanien nutzte im Spielaufbau viele Spieler in hohen Positionen – auch die Innenverteidiger befanden sich häufig in der gegnerischen Hälfte. Dazu agierte Rodri in der ersten Halbzeit als alleiniger Sechser vor der Abwehr. Das barg in der Theorie ein großes Risiko für gefährliche gegnerische Konter nach spanischen Ballverlusten. England agierte in diesen Umschaltmomenten jedoch zu passiv und konnte kaum für Gefahr sorgen. Durch die sehr tiefe Positionierung der Flügelspieler im Abwehrpressing sowie zeitweise Mittelstürmer Harry Kane gab es nach Ballgewinn keine Anspielstation in der Tiefe – der Ballbesitzende musste entweder ins Dribbling gehen oder einen risikoreichen Pass spielen, was für viele erfolgreiche spanische Aktionen im Gegenpressing sorgte.
Williams Flanke wird abgefangen.
Der Ball gelangt über Foden zu Bellingham.
Durch das zuvor tiefe Verteidigen hat England keine aussichtsreiche Kontermöglichkeit.
Schwache Strafraumbesetzung
Englands Trainer Gareth Southgate entschied sich das erste Mal in diesem Turnier für Luka Shaw als Linksverteidiger anstelle von Kieran Trippier. Defensiv machte Shaw es über weite Strecken des Spiels gut – offensiv konnte er die Vorteile gegenüber Trippier allerdings kaum einsetzen. Nur selten konnte er unbedrängt flanken, und wenn, dann plagten die Engländer ähnliche Probleme wie schon im Halbfinale gegen die Niederlande: Da sich Harry Kane im Spielaufbau gerne fallen ließ, fehlte er anschließend häufig im Strafraum. Die Strafraumbesetzung Englands sorgte also nur selten für wirkliche Gefahr, zumal die restlichen Offensivspieler nur über wenig Qualität und "Größe im Kopfballspiel" verfügen.
Entscheidende Anpassungen
Nach der verletzungsbedingten Auswechslung von Rodri änderte Spaniens Trainer Luis de la Fuente die Aufbaustruktur und beförderte einen zweiten Sechser nach hinten. Da Phil Foden sich nun in einer 2-gegen-1-Unterzahl befand, schob einer von Englands zentralen Mittelfeldspielern höher, was für mehr Raum vor der Abwehrkette sorgte. Diesen nutzten die Spanier durch präzise Tiefenpässe zwischen die Ketten. Ebenfalls liefen Spaniens Mittelstürmer (Alvaro Morata und später Mikel Oyarzabal) nun häufiger tief hinter die Abwehr, anstatt sich fallen zu lassen. Beide Aspekte in Kombination führten letztlich zum Siegtreffer.
Le Normand passt in die Halbspur zu Yamal.
Yamal dreht auf und spielt einen Schnittstellenpass zu Morata, ...
... der knapp am Tor vorbei schießt.
Spanien baut mit zwei tiefen Sechsern auf. Le Normand spielt einen Chipball in den offenen Raum.
Morata legt auf Carvajal und initiiert eine gute Angriffsmöglichkeit.
Laporte passt zu Ruiz, der auf Olmo weiterleitet.
Olmo passt zu Oyarzabal, der in den Lauf von Cucurella ablegt und anschließend tief läuft.
Cucurella flankt scharf auf Oyarzabal, der im Fallen ins Tor trifft.
Verdienter Europameister
Spanien krönte sich verdient zum Europameister. Sieben Siege in sieben Spielen zeigen die Dominanz deutlich auf. Die 15 erzielten Tore sind zudem neuer EM-Rekord. Dabei zeigten die Spanier eine starke Mischung aus kontrolliertem Ballbesitz, intensivem Gegenpressing und schnellem Konterspiel. England wurde zwar das gesamte Turnier über kritisiert – die zweite Finalteilnahme in Folge bestätigt Trainer Gareth Southgate jedoch in seinem pragmatischen Ansatz. Im Finale fehlte ihnen aber zu häufig die Durchschlagskraft und auch nach dem Ausgleichstreffer waren sie zu passiv, sodass der Druck der Spanier irgendwann zu groß wurde und folgerichtig im 1:2 endete.