Spielanalyse
Kontrolle durch Ballbesitz – Spanien schlägt Frankreich
Der Sieg zum Finaleinzug der Iberer unter der Lupe
Marius Fischer
Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Leiter der Analyseabteilung bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.
Vor dem Spiel wurde viel über die unterschiedlichen taktischen Ansätze beider Teams diskutiert: Die offensivstärkste Mannschaft des Turniers trifft auf die defensivstärkste. Nach einem fulminanten Start mit drei Toren in den ersten 25 Minuten verflachte das Spiel immer mehr, und es gab so gut wie keine nennenswerte Torchance mehr in der zweiten Halbzeit – wodurch sich die Spanier ihre erste Finalteilnahme bei einem großen Turnier seit der EM 2012 sichern konnten. Der 16-jährige Lamine Yamal erzielte per Fernschuss das wohl bisher schönste Tor dieser EURO und wurde zum Spieler des Spiels gewählt.
Mit den eigenen Waffen geschlagen
Vor allem in der zweiten Halbzeit überzeugten die Spanier mit einer sehr hohen defensiven Kompaktheit und „passiven Spielkontrolle“ – eigentlich die große Stärke der Franzosen. Erst in der 81. Minute sorgte Lamine Yamal für den ersten Torschuss in der zweiten Spielhälfte – für spanische Verhältnisse ein absolutes Novum. Doch da sie defensiv nach dem Führungstreffer der Franzosen kaum etwas zuließen (0.60 Expected Goals bei nur sechs gegnerischen Torschüssen nach der zehnten Minute), behielten sie dennoch zu jeder Zeit die Kontrolle und verhinderten ein französisches Momentum – vor allem dank ihres sicheren Passspiels. Trotz Führung erhöhte sich der Ballbesitz der Spanier in der zweiten Halbzeit um sechs Prozentpunkte auf 61% bei einer Passgenauigkeit von über 90%.
Ungleiches Duell in der Außenspur
Durch die Sperre von Dani Carvajal rückte Jesus Navas auf die Rechtsverteidigerposition und agierte damit als Gegenspieler von Kylian Mbappé. Ein 38-Jähriger gegen einen der schnellsten und besten Offensivspieler der Welt: Auf dem Papier ein ungleiches Duell, das die Franzosen vor allem in der Anfangsphase des Spiels immer wieder durch 1-gegen-1-Situationen ausnutzen wollten. Spanien schaffte es jedoch zumeist, dies im Kollektiv zu verhindern: Flügelspieler Lamine Yamal und einer der zentralen Mittelfeldspieler schoben dabei in die Außenspur, um Mbappé entweder zu Rückpässen zu zwingen oder zumindest einen möglichen Torabschluss deutlich zu erschweren. Wie wichtig dieses disziplinierte Defensivverhalten war, zeigt das 1:0 der Franzosen: In dieser Szene schoben die Spanier nach der schnellen Verlagerung der Franzosen einmal zu spät mit einem zweiten Spieler raus auf Mbappé, sodass dieser isoliert gegen Navas in den Strafraum eindringen und den Kopfballtreffer von Kolo Muani per Flanke vorbereiten konnte (s. Mbappé in der Außenspur III).
Rabiot passt zu Mbappé. Spanien schiebt mit drei Spielern zum Ball ...
... und zwingt Mbappé zu einem Rückpass.
Theo passt zu Mbappé, der mit Raum andribbeln kann. Spanien schiebt ballorientiert zu.
Mbappé dribbelt ins Zentrum, ...
... sein Schuss wird jedoch geblockt.
Tchouaméni verlagert in die linke Außenspur ...
... auf Mbappé, der sich im 1-gegen-1 mit Navas befindet ...
... und per Flanke das 1:0 von Kolo Muani vorbereitet.
Einrückende Flügelspieler
Nico Williams und Lamine Yamal sind die Shootingstars des Turniers. Beide verfügen über ein überragendes Tempo, sind dribbelstark und zudem torgefährlich. Gegen Frankreich verließen beide situativ ihre Außenspur und positionierten sich in der Halbspur, was für Zuteilungsprobleme in der französischen Defensive sorgte. Da N'golo Kanté häufig etwas aggressiver nach vorne presste, gab es zwischen den Linien gegen die flach agierenden zentralen Mittelfeldspieler Aurelién Tchouaméni und Adrien Rabiot häufig viel Raum zum Aufdrehen für Williams und Yamal. Diesen konnten sie immer wieder für Verlagerungen auf den freien Mann in der Außenspur, Schnittstellenpässe oder eigene Dribblings nutzen. Aus einer solchen Positionierung in der Halbspur entstand auch Yamals Traumtor zum zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich.
Nacho passt in die Halbspur zu Yamal, der ins Zentrum dribbelt ...
... und in den Lauf von Olmo passt, ...
... der in die rechte Außenspur verlagert.
Laporte dribbelt an ...
... und passt in die linke Halbspur auf den entgegenkommenden Williams, ...
... der sich dreht und einen linienbrechenden Pass zu Morata spielt.
Überspielen des Angriffspressings
Trotz des relativ frühen Rückstandes blieben die Franzosen über weite Strecken des Spiels ihrem defensiven Ansatz treu. Der PPDA-Wert (erlaubte Pässe bis zu einer Defensivaktion) lag bis zur 60. Minute bei 16 – ein Beleg dafür, dass sie nur selten ins Angriffspressing gingen und den Spaniern viel Zeit und Raum am Ball gaben. Erst in den letzten 30 Minuten fiel dieser Wert auf acht – Frankreich presste nun gezwungenermaßen höher, musste mehr Risiko gehen und hohe Ballgewinne erzwingen. Dies gelang jedoch nur selten: Durch das Fallenlassen des Mittelstürmers oder das Einrücken der Flügelspieler verfügte Spanien zu jeder Zeit über genügend Spieler in der Zentrums- und Halbspur, um das Angriffspressing der Franzosen zu überspielen. Die "Pressingresistenz" und das sehr gute Freilaufverhalten der spanischen Mittelfeldspieler machten es Frankreich zudem sehr schwer, Zugriff auf den Ball zu bekommen – hohe Ballgewinne gab es so gut wie keine, und wenn, dann nur durch einfache Fehler der Spanier.
Frankreich läuft hoch an. Simón spielt einen linienbrechenden Pass ...
... zu Olmo, der auf Ruiz klatschen lässt.
Ruiz passt in den Lauf von Rodri. Frankreichs Pressing ist überspielt.
Ruiz passt zu Rodri, der sofort angelaufen wird.
Ruiz bewegt sich nach seinem Pass aus dem Deckungsschatten und wird von Rodri angespielt.
Ruiz passt in den Lauf zu Cucurella und überspielt das Pressing von Frankreich.
Verdienter Finaleinzug
Wie bereits gegen Deutschland verließen sich die Spanier nach ihrem Führungstreffer fast ausschließlich auf das Verwalten ihres Vorsprungs durch lange Ballbesitzphasen. Auch wenn der gegnerische Ausgleich diesmal ausblieb, im Gegensatz zum Viertelfinale, birgt diese Spielweise ein gewisses Risiko, und es wird interessant sein zu beobachten, ob Trainer Luis de la Fuente nach einer möglichen Führung im Finale einen etwas offensiveren Ansatz wählt, um gegen Ende des Spiels nicht zu sehr unter Druck zu geraten. Nichtsdestotrotz stehen die Spanier verdient im Endspiel, da sie erneut gezeigt haben, dass sie neben ihren hervorragenden Offensivqualitäten auch eine "neue" Stärke in der Strafraumverteidigung besitzen.