Wissen
„Women are not small men“: Psychologische Faktoren im Frauenfußball
Überblicksarbeit untersucht Zusammenhang mit Leistungsniveau
- Ein aufgabenorientiertes Klima hängt positiv mit sportlicher Leistung zusammen.
- Mentale Stärke, Gewissenhaftigkeit, exekutive Funktionen und Ängstlichkeit scheinen gut zwischen verschiedenen Leistungsniveaus im Frauenfußball unterscheiden zu können.
- Der genaue Grund für einen Zusammenhang (Entwicklungs- vs. Selektionshypothese) bleibt offen.
- Zukünftige Studien zum Zusammenhang zwischen psychologischen Faktoren und sportlicher Leistung im Frauenfußball sollten größere Stichproben verwenden und sich – wenn möglich – stärker an wissenschaftlichen Kriterien orientieren.
Abstract
Nur wenige Studien im Fußball befassen sich auch mit Spielerinnen. Im Rahmen einer systematischen Übersichtsarbeit fasst ein Autorenteam bis dato existierende Studien zusammen, die den Zusammenhang zwischen psychologischen Faktoren und dem sportlichen Leistungsniveau überprüft haben. Dabei werden 14 Studien einbezogen, welche insgesamt 1449 Teilnehmerinnen und 15 psychologische Faktoren betrachten. Die Ergebnisse zeigen, dass Spielerinnen mit höherem Leistungsniveau tendenziell höhere Werte bezüglich mentaler Stärke, Gewissenhaftigkeit und exekutiver Funktionen sowie niedrigere Werte bzgl. Ängstlichkeit aufweisen. Zudem scheint Freude und ein wahrgenommenes motivationales Klima der Aufgabenorientierung mit höherer Leistung und Kompetenzwahrnehmung einherzugehen. Da nur sehr wenige Studien mit teils geringer Anzahl an Teilnehmerinnen existieren, fordern die Autorinnen mehr und größere Studien, um den Zusammenhang und die Wirkrichtung zwischen psychologischen Faktoren und sportlicher Leistung im Frauenfußball herauszustellen.
Frauenfußball: Immer populärer & chronisch unterforscht
22.04.2022: Die Frauenmannschaft des VfL Wolfsburg tritt vor mehr als 90.000 Zuschauern im Camp Nou gegen den FC Barcelona an.
Mai 2022: Der Tarifvertrag für eine gleiche Bezahlung für Männer und Frauen im US-Fußball steht
An den Beispielen wird nicht nur deutlich, dass der Frauenfußball (a) an Popularität gewinnt und (b) die Aufmerksamkeit und (finanzielle) Wertschätzung steigt. Jenseits der öffentlichen Wahrnehmung ist festzuhalten, dass lediglich ca. 25% der veröffentlichten Studien im Fußball auch Frauen berücksichtigten. Zeitgleich nimmt der relative Anteil der Männer an den Studienteilnehmenden in den letzten 10 Jahren zu [1]. Doch auch in der wissenschaftlichen Literatur mehren sich die Stimmen, dass Frauen nicht ‚kleine Männer‘ seien („Women are not small men“ [2]) und es deshalb spezifische Forschung zu Frauen im Sport, z. B. im Frauenfußball, geben sollte. Diese Forschung hat sich in den letzten Jahren intensiviert, wenngleich der Fokus weniger auf psychologische, denn auf physiologische und taktische Aspekte gelegt worden ist [3].
Relevanz psychologischer Faktoren
Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2020 [4] zeigt die Relevanz verschiedener psychologischer Faktoren (z. B. Aufgabenorientierung, perzeptuell-kognitive Fähigkeiten) für die zukünftige fußballerische Leistung – wenngleich mit der Einschränkung kleiner Effektstärken und großer Unsicherheit nach der GRADE-Methodik. Da diese Übersichtsarbeit lediglich eine Studie mit Spielerinnen berücksichtigt, hat ein Autorenteam aus Norwegen eine systematische Übersichtsarbeit zur Frage „Welche psychologischen Faktoren hängen mit der Leistung im Frauenfußball zusammen“ erstellt.
Nur wenige Studien vorhanden
Damit ansatzweise eine Vergleichbarkeit der Studien gegeben ist, entschied das Autorenteam, lediglich Studien einzubeziehen, die (a) Fußballspielerinnen älter als 15 Jahre und (b) sowohl Leistungsparameter als auch psychologische Faktoren untersuchten. Zudem war Voraussetzung, dass diese Studien (c) in Peer-Review-Journalen oder als Doktorarbeiten, auf (d) Englisch oder Norwegisch veröffentlicht wurden. Letztlich wurden auch nur (e) quantitative Studien einbezogen, d. h., Studien, welche standardisiert Daten erheben und sich statistischer Methoden bedienen. Somit betrachtet das Autorenteam insgesamt 14 Studien mit 1449 Spielerinnen und 15 verschiedenen psychologischen Faktoren.
Höherklassig spielende Spielerinnen sind mental stärker, gewissenhafter und weniger ängstlich
In einzelnen Studien konnte gezeigt werden, dass höherklassig spielende Spielerinnen bessere Werte in Bezug auf mentale Stärke („Mental Toughness“) aufweisen als Spielerinnen aus niedrigeren Spielklassen [5, 6]. Eine Studie, welche sich die Big-5-Persönlichkeitsmerkmale (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Neues, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit) näher anschaut, findet, dass lediglich Gewissenhaftigkeit als Prädiktor für sportliche Leistung (via Spieldaten) gilt, während Gewissenhaftigkeit und (negativ) Neurotizismus die sportliche Leistung (via Trainerurteil) erklärt [7]. Letztlich scheinen höher spielende Fußballspielerinnen ebenfalls weniger ängstlich zu sein als Spielerinnen aus unteren Ligen [6].
Schneller im Kopf = bessere Fußballerin?
Ein weiterer Faktor im Rahmen der systematischen Übersichtsarbeit sind perzeptuell-kognitive Fertigkeiten, welche auch im Männerfußball diskutiert werden [8]. Im Frauenfußball zeigen sich Tendenzen, dass höherklassig spielende Frauen bessere exekutive Funktionen [9] sowie bessere Antizipationsleistungen [10] zeigen als Spielerinnen aus niedrigeren Ligen. Dies scheint Erkenntnisse aus dem Bereich des Männerfußballs grundsätzlich widerzuspiegeln [11].
Relevanz der Atmosphäre
In zwei der 14 Studien konnte festgestellt werden, dass ein sogenanntes „Mastery Climate“, d. h., Fokus auf das Bewältigen einer Aufgabe und persönliches Verbessern (im Gegensatz zum Fokus auf das Gewinnen gegen andere) mit höherer wahrgenommener Kompetenz, Freude und intrinsischer Motivation [12] und Leistungserbringung unter Druck [13] einhergeht. Interessanterweise gab es in einer Studie einen negativen Zusammenhang zwischen wahrgenommenem Teamzusammenhalt und Leistungswahrnehmung der Spieler [14].
Aussagekraft begrenzt
Da nur 14 Studien berücksichtigt werden konnten, stellt das Autorenteam fest, dass die Aussagekraft ihrer systematischen Übersichtsarbeit begrenzt ist. Dies zeigt sich zudem an ihrer Qualitätsbeurteilung der Studien, welche insgesamt (angelehnt an GRADE-Methodik) einen Mittelwert von 22,79 (bei einem möglichen Maximalwert von 40) vom Autorenteam bzgl. ihrer Qualität erhalten. Zudem wird angeführt, dass die Studien alle aus dem amerikanischen und nordeuropäischen Raum stammen und somit eine Generalisierbarkeit nicht gewährleistet sei. Außerdem ist wichtig, zu betonen, dass die persönlichkeitsbezogenen Maße (z. B. Ängstlichkeit, BIG-5) über Selbstauskunftsfragebogen erfasst worden sind und entsprechenden Verzerrungen unterliegen können.
Entwicklung oder Selektion?
Für die Wissenschaft und Praxis stellt sich zudem die Frage, worauf sich die gefundenen Zusammenhänge zurückführen lassen. So kann es zum einen sein, dass die Spielerinnen in den höheren Ligen aufgrund ihrer besseren mentalen Stärke, ihrer besseren kognitiven Fertigkeiten, ihrer höheren Gewissenhaftigkeit und geringeren Ängstlichkeit dieses Level erreicht haben. Auf der anderen Seite ist es auch denkbar, dass die Spielerinnen durch das Spielen auf diesem Leistungsniveau eine bessere mentale Stärke, bessere kognitive Fertigkeiten, höhere Gewissenhaftigkeit und geringere Ängstlichkeit entwickelt haben. Dies ist im Rahmen der Übersichtsarbeit nicht abschließend geklärt – und auch deshalb sollten psychologische Test nicht im Rahmen der Talentidentifikation oder -selektion eingesetzt werden [15].
Für die Praxis: „Mastery Climate“ und Aufgabenorientierung
Dennoch können Trainerinnen und Trainer im Frauenfußball die Ergebnisse als Grundlage nehmen, ihr Training und ihren Umgang mit den Spielerinnen und dem Team in Richtung „Mastery Climate“ und Aufgabenorientierung anzupassen. Dies bedeutet, bspw., die individuelle Entwicklung der Spielerinnen hervorzuheben und diese in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, mit positiven Verstärkungen (Belohnungen) zu arbeiten, ein kooperatives Umfeld zu kreieren, indem die Spielerinnen Aufgaben gemeinsam lösen müssen und zeitnahes Feedback auf individueller und Teamebene bzgl. der Entwicklung zu geben [16]. Unter Umständen hilft dies Zuschauer*innen, Trainer*innen und Wissenschaftler*innen, bei Frauen differenziert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu männlichen Sportlern (an)zuerkennen.
Die Inhalte basieren auf der Originalstudie „Psychological factors and performance in women’s football: a systematic review“, die 2021 im „Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports“ veröffentlicht worden ist.
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Literatur
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