Wissen
Vororientierung: Mit Schulterblick zum Passerfolg
Genaue Beobachtung des Spielumfelds vor der Ballannahme verschafft entscheidende Sekundenbruchteile
- Im Mannschaftssport sind Schulterblicke ein häufig unterschätztes Verhalten, das die visuelle Wahrnehmung direkt unterstützt und anschließende Aktionen beeinflusst.
- Erstmals hat eine Studie experimentell den Zusammenhang zwischen Schulterblicken (beobachtendem, visuellem Suchverhalten) und anschließender Ballaktion in einem Fußballsetting untersucht.
- Spieler, die vor der Ballannahme häufig und schnell über die Schulter blickten, wussten schneller, zu welchem Mitspieler sie den Ball weiterspielen würden.
- Den Empfehlungen zufolge sollten im Fußballtraining häufiger Spielaktionen und Pässe in einem 360-Grad-Szenario unter Zeitdruck geschult werden.
Abstract
Wer sich gut umschaut, ist besser im Bilde. Das gilt auch für Fußballer. Spieler, die sich noch vor dem Anspiel einen genauen Überblick von der Spielsituation um sie herum verschaffen, können anschließend schnellere Entscheidungen treffen. Wenn Spieler vor der eigenen Ballannahme durch häufiges Schulterblicken die Umgebung „scannen“, können sie schneller den Ball zum freien Mitspieler passen. Dies legt eine aktuelle Studie nahe, bei der Forscher zum ersten Mal überhaupt experimentell den Zusammenhang zwischen beobachtenden („explorativen“) und ausführenden Aktionen in einem Fußballszenario untersuchten.
Das Spiel in Sekundenbruchteilen lesen
Im modernen Hochgeschwindigkeitsfußball entscheiden häufig Bruchteile einer Sekunde darüber, ob eine Aktion gelingt oder nicht. Wenn beispielsweise die angreifende Mannschaft unter Druck des Gegners gezwungen wird, den Ball möglichst mit nur einem Kontakt zu einem freien Mitspieler zu passen, zählen manchmal Zehntelsekunden – ansonsten könnte der anvisierte Mitspieler schon wieder „zugelaufen“ und der Ballbesitz dahin sein.
Bei der Entscheidung unter Zeitdruck, welche Passmöglichkeit die optimale ist, scheint ein Faktor eine besonders wichtige Rolle zu spielen: die vorhergehende Beobachtung der Spielumgebung. Wer in dynamischen Umgebungen wie dem Fußballspiel schnell die richtige Entscheidung treffen soll, für den ist ständiges sogenanntes „exploratives Verhalten“ unerlässlich. Dabei sammelt der Fußballspieler – noch bevor er den Ball zugespielt bekommt – durch Beobachtung der ihn umgebenden Bedingungen so viele Informationen wie möglich, um bei Ballbesitz eine schnelle Ballweiterleitung parat zu haben.
In der Vergangenheit haben Sportwissenschaftler bei der Erforschung des explorativen Verhaltens vor allem die Augenbewegungen der Spieler mittels Eye-Tracking-Systemen gemessen. Der Einsatz dieser Technologie hat allerdings häufig dazu geführt, dass die Probanden Spielsituationen nur frontal präsentiert bekamen und der 360-Grad-Charakter des realen Fußballspiels nicht berücksichtigt wurde (s. Studie: Auf den zweiten Blick).
Im Blickfeld: Die Kopfbewegung der Spieler
Ein australisch-norwegisches Forscherteam hat sich darum einem anderen, häufig unterschätzten Verhaltensmerkmal zugewandt: den Kopfbewegungen von Fußballspielern. Die Richtung des Kopfes zeigt nämlich recht zuverlässig die Blickrichtung der Augen an [2]. Eine Studie konnte zeigen, dass Spieler, die noch vor Erhalt des Balles häufig den Kopf drehten, um die Umgebung zu scannen, anschließend erfolgreichere Pässe spielten [3]. Das Team um Thomas M. McGuckian knüpft mit der aktuellen Studie an diese Analyse an. Die Wissenschaftler wollten prüfen, ob die Exploration durch häufiges Kopfbewegen auch zu einer schnelleren Passquote zum nächsten freien Mitspieler führen würde.
Wie lassen sich Wahrnehmung und Aktion experimentell erfassen?
Für die Analyse haben sich die Forscher ein bisher einmaliges Experimentsetting ausgedacht (s. Abbildung 1): Es simuliert eine Situation in einem Fußballspiel, bei der ein Spieler (der Proband) einen Pass von einem Bildschirm „zugespielt“ bekommt und dieser den Ball möglichst schnell zu einem freien Mitspieler „passt“, der sich um ihn herum befindet. Die Testpersonen – semiprofessionelle jugendliche Fußballer – wurden mit einem Beschleunigungssensor am Kopf ausgestattet, der die Kopfbewegungen aufzeichnete.
Die Probanden waren umgeben von insgesamt fünf Bildschirmen: Der Bildschirm direkt vor ihnen zeigte in einer Videoszene einen Mitspieler an, der ihnen nach einer Zeitspanne von einem, zwei oder drei Sekunden den Ball virtuell zupasste. Auf den anderen vier Monitoren (1-4), die im Winkel von 100 und 150 Grad rechts und links um den Spieler standen, liefen kurze Videosequenzen, die eine von vier Optionen darstellten: Freies Spielfeld, freier Mitspieler, Gegner, gedeckter Mitspieler. Um die Szenerie möglichst dynamisch und damit realitätsnah zu gestalten, wechselten die dargestellten Sequenzen nach einigen Sekunden z. B. von der Option „freier Mitspieler“ zu „vom Gegner gedeckter Mitspieler“. Die Testpersonen waren angewiesen, den Ball, den sie virtuell vom Spieler auf dem frontalen Bildschirm erhielten, so schnell wie möglich in Richtung desjenigen Bildschirms zu „passen“, auf dem ein freier Mitspieler abgebildet war. Ein „Pass“ wurde als durchgeführt erachtet und die Zeit wurde angehalten, wenn der Proband einen der vier vor den Monitoren stehenden Kegel mit dem Fuß berührte. Die Forscher machten den Testpersonen gegenüber keine Angaben, ob und wie häufig sie durch Kopfbewegungen ihre Umgebung überprüfen sollten.
In über 1.000 Durchgängen wurde jeweils festgehalten, wie häufig die Spieler ihren Kopf vor und nach dem simulierten zugespielten „Pass“ bewegten und wie schnell sie danach den Kegel des zugehörigen Bildschirms umstießen, der den freien Mitspieler anzeigte. Ein Zufallsgenerator bestimmte, ob nach dem offiziellen Start eines Durchgangs der „Pass“ aus dem Frontmonitor mit einer, zwei oder drei Sekunden Verzögerung gespielt wurde.
Weniger Erkundungszeit vor dem Ballbesitz - mehr Schulterblicke mit Ball
In der Phase vor dem Zuspiel, also bevor die Testpersonen in „Ballbesitz“ kamen, blickten diese unabhängig davon, wieviel Zeit sie zur Verfügung hatten (1, 2, oder 3, Sekunden), mit derselben Häufigkeit über ihre Schulter.
Während der Phase, in der die Testpersonen in „Ballbesitz“ waren, verhielt es sich jedoch anders: Die Spieler, welche nur eine Sekunde Vorlauf hatten, blickten deutlich häufiger über die Schulter, als diejenigen Spieler, welche zwei oder drei Sekunden Vorlaufzeit hatten.
Dies scheint also zur Folge zu haben, dass Spieler, die vor der Ballannahme weniger Zeit hatten ihre Spielumgebung zu scannen, mehr Zeit benötigen, um eine freie Anspielstation zu finden, während sie in „Ballbesitz“ sind.
Häufigere Schulterblicke vor Ballbesitz führen zu geringerer Dauer bis zum Beginn einer Anschlussaktion
Es ergab sich ein klarer Zusammenhang zwischen der Häufigkeit und Geschwindigkeit der explorativen Kopfbewegungen und dem Beginn einer Anschlussaktion (s. Abbildung 2). Mit anderen Worten: Wer in der Zeit vor der Ballannahme den Kopf schneller und häufiger drehte, nahm die umgebenden Bedingungen besser wahr und konnte schneller mit einem Pass zum freien Mitspieler reagieren sobald ihm der „Ball“ zugespielt worden war. Außerdem benötigten die Spieler, die vor dem Zuspiel häufiger den Kopf drehten und ihr Umfeld erkundet hatten, weniger Kopfbewegungen ab eigenem Ballbesitz und konnten sich darum besser auf den „Pass“ konzentrieren.
Es lässt sich also festhalten: Visuelle Exploration durch häufiges und schnelles Kopfdrehen vor der eigenen Ballannahme ist im Fußball mitentscheidend für die Schnelligkeit und die Genauigkeit [3] der nachfolgenden Handlung mit dem Ball.
Die Studienautoren geben zu bedenken, dass die Untersuchung in einer künstlichen Laborumgebung und ohne echten Ball abgelaufen ist. Das Experiment könne die Dynamik und Komplexität eines realen Fußballspiels mit seinen vielfältigen Positionsänderungen und unterschiedlichen Distanzen zwischen Spielern und Ball nicht direkt abbilden. Dennoch gäben die Studienergebnisse Hinweise darauf, wie wertvoll exploratives Verhalten in dynamischen Sportarten wie dem Fußballsport sein kann. In einer Videoanalyse-Studie zum Umblickverhalten von Profi-Fußballern stellten Jordet und Kollegen im Jahr 2011 fest, dass Steven Gerrad 0,61 Suchvorgänge pro Sekunde, Frank Lampard 0,62 Suchvorgänge pro Sekunde und Xavi von Barcelona 0,83 Suchvorgänge pro Sekunde durchführten (Beispielvideo Umblickverhalten im Wettkampf).
Welche Inhalte lassen sich fürs Training ableiten?
Trainer könnten daraus wichtige Schlüsse ziehen. Die Autoren empfehlen, das umsichtige Erkunden durch Kopfdrehungen und Schulterblicke bewusst in Trainingseinheiten einzubinden, um extrem schnelles, direktes Passspiel zu fördern. Dabei eigneten sich beispielsweise Übungen, in denen die Spieler innerhalb eines 360-Grad-Aktionsumfelds unter Zeitdruck zu schnellen Entscheidungen gezwungen sind.
Die Inhalte basieren auf der Originalstudie "Visual Exploration When Surrounded by Affordances: Frequency of Head Movements Is Predictive of Response Speed.", die 2018 im Journal "Ecological Psychology" veröffentlicht wurde.
Weiterführende Links
Hier geht es zu Übungsformen zur Schulung des Umblickverhaltens.
Auch der Footbonaut bietet Möglichkeiten zur Schulung der Vororientierung, des Entscheidungshandeln und des Passspiels.
Diese Studie teilen:
Literatur
- McGuckian, T. B., Cole, M. H., Chalkley, D., Jordet, G., & Pepping, G. J. (2018). Visual exploration when surrounded by affordances: frequency of head movements is predictive of response speed. Ecological Psychology, 1-19.Studie lesen
McGuckian, T. B., Cole, M. H., & Pepping, G.-J. (2018). A systematic review of the technology-based assessment of visual perception and exploration behaviour in association football. Journal of Sports Sciences, 36(8), 861-880.
Fang, Y., Nakashima, R., Matsumiya, K., Kuriki, I., & Shioiri, S. (2015). Eye-head coordination for visual cognitive processing. PLoS One, 10(3), e0121035.
Jordet, G., Bloomfield, J., & Heijmerikx, J. (2013). The hidden foundation of field vision in English Premier League (EPL) soccer players. Paper presented at the MIT Sloan Sports Analytics Conference, Boston.