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Fußball spielen auf Kunstrasen: Gefährlicher als auf Naturrasen?

Äquivalenzstudie zeigt keinen Unterschied in der Gesamtverletzungshäufigkeit

Technologie & Equipment
Medizin
Auf einem Kunstrasen findet eine Trainingseinheit statt. Es sind die Beine eines Fußballspielers und ein Fußball zu sehen.
    • Für die Äquivalenzstudie wurden Verletzungsdaten von zwei amerikanischen Profiteams der Major League Soccer (MLS) über vier Spielsaisons hinweg (2013-2016) analysiert. Gespielt wurde auf Kunst- und Naturrasen.
    • Die untersuchten Kunstrasen hatten eine 2-Sterne-Zertifizierung der FIFA.
    • Die Datenanalyse zeigt eine vergleichbare Gesamtverletzungshäufigkeit auf beiden Spielflächen bei insgesamt 2.174 Verletzungen.
    • Ein Vergleich der spezifischen Verletzungen ergab mehr Achillessehnenverletzungen und Sprunggelenksfrakturen auf Kunstrasen.
Abstract

Kunstrasenplätze der dritten Generation sind aufgrund ihrer fortgeschrittenen technischen Entwicklung und umfangreichen Nutzungsmöglichkeiten in den Fokus der Fußballvereine gerückt. Trotz der Nähe zum Naturrasen wird die Frage diskutiert, ob das Rasenimitat zu mehr Verletzungen führt. Eine amerikanische Äquivalenzstudie hat die Verletzungshäufigkeiten zweier Profiteams der Major League Soccer (MLS) über vier Spielsaisons hinweg auf beiden Platzarten ausgewertet. Das Fazit: Die Gesamtverletzungsrate auf Kunstrasen war nicht höher als auf Naturrasen. Innerhalb der einzelnen Verletzungskategorien wurde eine höhere Rate von Sprunggelenks- und Achillessehnenverletzungen auf Kunstrasen festgestellt. Bei anderen untersuchten Körperregionen wurden keine klinisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den Spielfelduntergründen ermittelt.

Stumpfes Geläuf, schnellere Ermüdung, höhere Verletzungsgefahr?

Kunstrasenbelag hat mitunter ein schlechtes Image. Ursprünglich als Alternative zu Hartplätzen gedacht, bestand das künstliche Grün der ersten Generation aus einfachem Nylon auf Beton. Dass die Plastikfasern das Spiel verändern, erlebte Franz Beckenbauer, als er 1977 nach New York wechselte. Seine gefürchteten langen, hohen Pässe flogen zunächst weder hoch noch weit: Er kam mit dem Schuh einfach nicht richtig unter den Ball. Seine Flachpässe schossen regelmäßig über das Ziel hinaus.

Seitdem hat sich das Rasenimitat technisch weiterentwickelt. Die Kunsthalme der heute verbauten dritten Generation bestehen aus langen gekräuselten Kunststofffasern, die auch einen wohl dosierten Pass zulassen. Sie sind auf einer elastischen Tragschicht aus Polyethylen aufgebracht, die auf einem Bett aus Schotter oder Splitt liegt, damit Regenwasser versickern kann. Gummigranulate zwischen dieser Elastikschicht und den Kunsthalmen schaffen Halt und Stabilität für die Spieler. Sie ersetzen den Sand, der noch auf Kunstrasenplätzen der zweiten Generation als Füllmaterial eingesetzt wurde, was häufig zu schmerzhaften Schürfverletzungen geführt hat. Neuerdings wird mit Kork als umweltfreundliche Alternative experimentiert (Hinweis: Die Thematik von Mikroplastik ist nicht Inhalt dieses E-Papers. FAQs hierzu können unter dem folgenden Link abgerufen werden – Stand 28.07.2019).

Kunstrasenplätze heute besser als ihr Ruf

Längst sind Kunstrasenplätze in den Anlagen von Profi- und Amateurvereinen angekommen. Sie bieten im Vergleich zu Naturrasenspielfeldern deutlich umfangreichere Nutzungsmöglichkeiten: Sie können saisonal länger und wetterunabhängiger bespielt werden. Zudem sind sie kostengünstiger in der Wartung. Für viele Städte und Gemeinden ein ausschlaggebendes Argument, um ein annähernd ausreichendes Fußballangebot gewährleisten zu können.

Trotz der verbesserten Beschaffenheiten haben viele Fußballspieler Vorbehalte gegen das künstliche Grün als Spielfelduntergrund, den die FIFA und die UEFA im Spitzenfußball als turniertauglich zugelassen haben [1, 2, 3]. Sie bemängeln stumpfes Geläuf im Vergleich zum Naturrasen, schnellere Ermüdung und eine höhere Verletzungsgefahr. Ist das Unbehagen gerechtfertigt? Ist die Gefahr, sich zu verletzen, auf dem Rasenimitat höher als auf Naturrasen?

Sprunggelenke auf Kunstrasen häufiger von Verletzungen betroffen

Noch gibt es keine Langzeitstudie über das Unfallgeschehen des Fußballspielens auf Kunstrasen. Bisherige Studien zum Verletzungsgeschehen während des Wettspiels haben keine signifikanten Unterschiede beim Verletzungsrisiko in Bezug auf Kunst- oder Naturrasen ausgemacht [4]. Allerdings waren die betrachteten Datenmengen auch gering. Die vorliegenden Resultate deuten darauf hin, dass die unteren Extremitäten durch den Kunstrasen anders und an bestimmten Stellen stärker belastet werden. So passieren Sprunggelenksverstauchungen häufiger auf Kunstrasenuntergrund als auf Naturrasenplätzen [5, 6].

Weil sich ein deutlicher Unterschied schwer nachweisen lässt, setzt eine amerikanische Äquivalenzstudie erstmals auf ein sogenanntes Nichtunterlegenheitsdesign. Es wird vor allem in klinischen Medizinstudien angewendet, wenn in einem Vergleich von zwei Therapien schwer nachzuweisen ist, dass eine Behandlung besser ist als die andere. Die Idee dahinter: Statt zu prüfen, ob sich ein Unterschied bei der Wirkung zeigt, wird auf den Nachweis der Gleichheit gesetzt. Mit diesem Studiendesign wollen die Autoren zeigen, dass Kunstrasen nicht oder nur unbedeutend gesundheitsgefährdender ist als Naturrasen. Oder anders gesagt: Die Studie will den Nachweis erbringen, dass der Unterschied in der Verletzungshäufigkeit auf Kunst- und Naturrasen statistisch gesehen ohne Bedeutung ist.

Verletzungsdaten zweier Profi-Mannschaften aus vier Spielsaisons ausgewertet

Um dafür mit einer ausreichend großen Stichprobe arbeiten zu können, wurden die standardisierten, elektronisch erfassten Gesundheitsdaten von zwei amerikanischen Profiteams der Major League Soccer (MLS), die das medizinische Personal zur Trainingsüberwachung nutzt, über vier Spielsaisons (2013 bis 2016) herangezogen. Statistisch ausgewertet wurde das Verhältnis von Verletzungsraten in Bezug auf den jeweiligen Spielfelduntergrund. Die Kunstrasenspielfelder entsprachen dem 2-Sterne-Zertifikat der FIFA. Berechnet wurde sowohl die Gesamtverletzungshäufigkeit als auch die Verletzungshäufigkeit in den einzelnen Verletzungsuntergruppen.

Ergebnisse: Verletzungshäufigkeit gleich hoch

Registriert wurden insgesamt 2.174 Verletzungen. Pro Spiel ereigneten sich statistisch gesehen auf Kunstrasen 1,54 Verletzungsfälle, während auf Naturrasen 1,49 Verletzungen passierten (Risiko-Verhältnis: 1,03; 95 % CI: 0,94-1,14). Die Werte lagen innerhalb der definierten Nichtunterlegenheitsgrenze von 0,15. Damit stützt die Studie Erkenntnisse aus früheren Untersuchungen, die keinen signifikanten Unterschied zwischen Kunst- und Naturrasenspielfeldern gefunden haben. Die Gesamtverletzungsrate fiel demnach auf Naturrasen nicht geringer aus als auf Kunstrasen.

„Unsere Ergebnisse widersprechen der allgemeinen Meinung unter Eliteathleten, dass das Spielen auf Kunstrasen zu höheren Verletzungen führt“ [7], schreiben die Autoren. Diese Vorbehalte könnten noch auf Erfahrungen mit der älteren Kunstrasen-Generation beruhen, die tatsächlich mit höheren Verletzungsrisiken behaftet war. Obwohl mehrere ältere Studien auf eine Zunahme der Verletzungen sowie eine Veränderung der Verletzungsmuster bei der ersten Kunstrasen-Generation deuten [8, 9, 10], konnten neuere Studien die Beobachtung, dass Fußballspieler deshalb nicht mit vollem Einsatz auf Kunstrasen spielen oder bestimmte technische Handlungen nicht durchführen [7], nicht bestätigen. Bewegungsanalysen der Spieler während eines Wettspiels auf Kunstrassen erbrachten keine signifikanten Unterschiede in den zurückgelegten Distanzen, Sprints oder der Anzahl der Pässe [5, 11]. Auch eine biomechanische Studie, die speziell Fußbelastungsmuster untersuchte, konnte keine Zeit- oder Leistungsunterschiede zwischen den beiden Spielfelduntergründen feststellen [12].

Erhöhtes Risiko für Sprunggelenksverletzungen auf Kunstrasen

Betrachtet wurden auch die spezifischen Verletzungen. Dabei traten innerhalb der verschiedenen Untergruppen Sprunggelenksverletzungen und Achillessehnenverletzungen auf Kunstrasen statistisch gesehen häufiger auf als auf Naturrasen. Bei Fuß- und Vorfußverletzungen konnte eine Nichtunterlegenheit zwischen den beiden Oberflächen nachgewiesen werden.

Jährliche Verletzungsraten steigen in allen Sportarten

Die Studie zeigt auch einen Anstieg der jährlichen Verletzungshäufigkeit – auf beiden Platzarten. Auf Naturrasen stieg die Verletzungsrate jedes Jahr von 1,28 Verletzungen pro Spiel im Jahr 2013 auf 1,81 Verletzungen pro Spiel im Jahr 2016 (41,5 % Anstieg). Auf Kunstrasen erhöhte sich die Verletzungshäufigkeit von 1,09 auf 2,17 Verletzungen pro Spiel (98,2 %), während die durchschnittliche jährliche Zunahme auf Naturrasen 12,5 Prozent und auf Kunstrasen 26,3 Prozent betrug. Dieser Befund muss im Lichte steigender Verletzungsraten in den letzten Jahren bewertet werden [13]. Erschwerend kommt hinzu, dass Verletzungen selten auf einen einzigen Grund – beispielsweise einen schlechteren Spielfelduntergrund – zurückzuführen sind. Deshalb regt die Studie weitere Forschungen an, die andere Variablen in die Analyse einbeziehen, wie z. B. Daten zur Schwere der Verletzung sowie individuelle Spielermerkmale zur Spielposition, zur Verletzungsgeschichte und zur Rehabilitation. Weitere Einflussfaktoren sind Wetterbedingungen, Saisonabschnitt, Spielzeit, Spielverhalten des Gegners und Schuhwerk.

Für Trainer bedeuten die Resultate, die vor allem das Sprunggelenk als potenzielles Verletzungsrisiko auf Kunstrasenspielfeldern ausmachen, Spieler durch ein intensiveres Kraft- und Propriozeptionstraining auf das Spielen auf Kunstrasen vorzubereiten und mit einem dynamischen Warm-Up Verletzungsrisiken zu mindern.

Die Inhalte basieren auf der Studie "Injury Surveillance in Majour League Soccer. A 4-Year Comparison of Injury on Natural Grass Versus Artificial Turf Field", die 2019 im „American Journal of Sports Medicine" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Calloway, S.P., Hardin, D.M., Crawford, M.D. et al. (2019). Injury Surveillance in Major League Soccer. A 4-Year Comparison of Injury on Natural Grass Versus Artificial Turf Field. The American Journal of Sports Medicine, 47 (10): 2279-2286
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    1. FIFA (2012): FIFA quality concept — handbook of requirements for football turf.

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    2. FIFA (2016): Laws of the game.

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    3. FIFA (2015): FIFA quality concept for football turf.

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    4. Kristenson, K., Bjorneboe, J., Walden, M., et al. (2016): No association between surface shifts and time-loss overuse injury risk in male professional football. J Sci Med Sport. 19:218-221.

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    9. Hort, W. (1977): Behandlung von Schäden auf Kunststoffboden. BISP Köln 9:176-181

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