Wissen
Das Einmaleins der Spielsysteme
4-1-4-1, 4-3-3, 4-4-2, etc. - Kann man die Unterschiede mittels Positionsdaten messen?
- Das vorgestellte Verfahren ermöglicht es, Spielsysteme und deren Änderungen objektiv messbar zu machen.
- Die Datenanalyse aus 100 Profi-Spielen brachte 20 verschiedene Grundordnungen (10 Offensiv, 8 Defensiv, 2 Umschaltspiel) hervor, während Experten zwischen über 30 Systemen unterscheiden.
- Teams tendieren dazu zwischen speziellen offensiven Formationen und dazu passenden defensiven Formationen – und umgekehrt – zu wechseln.
- Die dynamische Analyse der Mannschaftstaktik erlaubt auch eine Interpretation von Spielerrollen innerhalb eines Spielsystems.
Abstract:
Eine der wichtigsten taktischen Entscheidungen, die ein Trainer vor und im Verlauf eines Spiels treffen muss, ist die Wahl des Spielsystems seiner Mannschaft. Die verschiedenen Grundordnungen und deren Interpretation der Spielpositionen beeinflussen maßgeblich die taktische Spielweise eines Teams. Trainer geben ihren Mannschaften häufig Formationen in einer Zahlenkombination wie z. B. 4-4-2 und dazugehörige Zusatzinformationen vor – aber wie viel Interpretationsfreiheit hat er dabei und versteht jeder Trainer unter einem 4-1-4-1 das Gleiche? Unterscheidet sich was Trainer A als „4-1-4-1 mit hohen Außenstürmern und zwei 8ern“ bezeichnen würde, überhaupt von einem „4-3-3 System mit einer zentralen 6 mit hohen außen“ von Trainer B?
Aus jeder TV-Berichterstattung kennt man die Startformationen beider Mannschaften. Zweifelsohne bleiben diese Formationen nur selten über die vollen 90 Minuten erhalten. Aber wann finden solche Übergänge im Spiel statt und gibt es Teams die sich durch besondere Formationen und Formationswechsel auszeichnen?
Positions- und Eventdaten bieten die Möglichkeit diesen Fragestellungen genauer auf den Grund zu gehen. Eine Kombination aus statistischen Verfahren macht es möglich, die Spielsysteme und deren Wechsel im Spiel automatisiert zu erfassen. Resultierend daraus ergibt sich die Möglichkeit für jedes Team die bevorzugten Formationen in der Defensive und der Offensive und somit auch das mannschaftstaktische Repertoire darzustellen.
Spielsysteme – ein Spiel der Zahlen?
Im Fußball gibt es etliche Spielsysteme die den Spielern eine Art Grundordnung oder eine taktische Grundausrichtung auf dem Feld vorgeben. Ausdruck finden die Spielsysteme in den spezifischen Spielpositionen der einzelnen Spieler und damit der Formationen. Manche behaupten, es lasse sich daraus sogar die Spielidee ableiten. In der Bundesliga der Saison 2018/19 sind die am häufigsten gewählten Startformationen das 4-4-2, das 4-3-3 sowie das 4-2-3-1. Diese Startformationen geben den Spielern einen „Arbeitsrahmen“ vor und werden vom Trainer je nach Gegner und Fähigkeiten der eigenen Spieler ausgewählt. Wie ein ausgeübtes Spielsystem in Form einer solchen Zahlenkombination bezeichnet wird, entscheidet einzig und allein das Trainerteam. Nun ist es aber nicht so, dass die Startformation oder die räumliche Anordnung der Spieler zu Beginn über das ganze Spiel beibehalten wird. Vielmehr ändert sich die Formation auch mal, je nachdem wie der Spielstand ist, ob das Team Ballbesitz hat oder eine Auswechslung vorgenommen wird. Üblicherweise üben Trainer mit ihren Teams mehrere Formationen und Formationswechsel für entsprechende Spielphasen ein, um angemessen auf bestimmte Gegner oder Spielsituationen reagieren zu können.
Eine datenbasierte Unterstützung
Laurie Shaw und Mark Glickman, Statistiker der Havard Universität, entwickelten und präsentierten eine automatisierte Methode, um die räumliche Aufteilung der Spieler in Abhängigkeit des Ballbesitzes zu analysieren. Insgesamt wurden dafür Trackingdaten aus 100 Profi-Spielen einer Saison ausgewertet. Das Besondere an der Methode ist, dass damit der Wechsel von strategischen Defensiv- und Offensivformationen studiert werden kann. Anders gesagt, in welchem Spielsystem spielt ein Team gegen den Ball und in welches System wechselt es, wenn es in den Angriff geht. Damit kann das mannschaftstaktische Repertoire eines Teams im Spielverlauf sichtbar gemacht werden und vor allem der Einfluss einer taktischen Änderung überprüft werden.
Wie genau wird das erreicht?
Die Autoren beschreiben in ihrem Artikel drei grundlegende Arbeitsschritte.
Erstens muss eine stabile Formation innerhalb eines Zeitfensters bestimmt werden. Das Zeitfenster wurde auf zwei Minuten begrenzt. Ballbesitzsequenzen die weniger als fünf Sekunden lang dauerten wurden in der Analyse nicht berücksichtig, ebenso, wenn innerhalb des Zwei-Minuten-Fensters eine Auswechslung stattfand und die Ballbesitzzeit davor weniger als eine Minute betrug. Um eine Formation zu bestimmen, wird die mittlere Position eines jeden Spielers auf dem Feld innerhalb des Zeitfensters benötigt. Anstatt jedoch die mittlere Position für jeden Spieler einzeln zu berechnen, verwenden die Mathematiker einen Algorithmus, der es erlaubt die mittlere Position relativ zu den Mitspielern zu bestimmen. Das hat den Vorteil, dass die mittlere Position eines Spielers ausschließlich von der Position seiner Mitspieler abhängt. Resultierend erhält man so für jedes Team pro Spiel im Durchschnitt zehn Formationen gegen den Ball und zehn bei eigenem Ballbesitz.
Die Autoren haben diese Methode nun auf 100 Spiele angewendet und erhalten so knapp 4.000 Beobachtungen von Team-Formationen. Jede Beobachtung beinhaltet die geschätzte Position der Spieler innerhalb der Formation im Zeitfenster. Damit liegt eine große Anzahl an verschiedenen Formationen vor, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden.
Hier setzt der zweite Arbeitsschritt an. Mittels einer Clusteranalyse werden Formationen, die sich besonders ähnlich sind zu Gruppen zusammengefasst. Im Ergebnis lassen sich 20 Cluster bündeln. Diese 20 verschiedenen Cluster zeigen recht deutlich den Unterschied zwischen bevorzugten Formationen in der Defensive und der Offensive (ABB. 01). Somit ist es möglich, anhand quantitativer Daten einzelne Spielsysteme zu bestimmen.
Im dritten Schritt werden die identifizierten Cluster als Grundlage verwendet, um neue Beobachtungen in diese Gruppen einzuordnen und systematisch den Wechsel von einer Defensivformation zu einer Offensivformation zu identifizieren.
Ergebnisse
Mit der vorgestellten Methode lassen sich durchgeführte Wechsel von einer bestimmten defensiven Formation zu einer offensiven Formation ermitteln. Also typische taktische Änderungen während des Spiels mit- und gegen den Ball. Beispielsweise der Wechsel von Cluster 2 (5-3-2) zu Cluster 16 (3-5-2). Die Außenverteidiger rücken bei eigenem Ballbesitz nach vorne, ebenso die beiden Mittelfeldspieler auf den Halbpositionen (siehe ABB. 02).
Praktische Anwendung
In der Auswertung kann der Einfluss einer taktischen Änderung (z. B. Formationswechsel durch Spielerwechsel) sichtbar gemacht und analysiert werden. Zudem können Rückschlüsse auf die Spielidee oder den Spielstil des jeweiligen Teams gezogen werden. Darauf aufbauend kann so das taktische Repertoire einer Mannschaft oder eines Trainers spielvorbereitend untersucht werden. Beispielsweise lässt sich überprüfen, welche Formationswechsel von einem Team vornehmlich zu einem bestimmten Zeitpunkt (z. B. letzten 15 Minuten des Spiels) vorgenommen werden. Dieser Informationsvorsprung kann gezielt genutzt werden, um sich auf taktische Änderungen des Gegners im Voraus einzustellen und mögliche Szenarien durchzuspielen. Letztendlich kann so auch die Wirksamkeit einer Strategieänderung überprüft werden (ABB. 03).
Kritik und Ausblick
Statistische Analysen beruhen auf Schätzungen. So auch die Schätzung, im Sinne einer Verallgemeinerung von mannschaftstaktischen Verhalten auf der Basis der räumlichen Verteilung der Spieler. Die Aufgaben eines Spielers innerhalb dieser gemittelten Positionen bleiben in dieser Analyse unberücksichtigt. Auch werden die gemischten Formationen innerhalb der 20 Grundformationen nicht thematisiert. Gemeinsam mit den Experten der Nationalmannschaften des DFB hat man versucht, die aus der vorgestellten Studie resultierenden Formationen bekannten Deklarationen der Praxis zuzuordnen. Die Erwartungshaltung, dass eine sehr ähnliche Spieleranordnung in der Praxis oft unterschiedlich bezeichnet wird, wurde bestätigt. Zudem verdeutlicht Abbildung 04 ebenfalls, dass bekannte Systeme – wie hier das 4-4-2 – verschiedene Ausprägungen in Offensive und Defensive haben kann.
Um diese offenen Punkte möglichst anzugehen und um einen Einzug der Methode in die Praxis zu gewährleisten, wird derzeit eine ähnliche Analyse der Länderspiele der A-Nationalmannschaft im Rahmen einer Masterarbeit mit der Universität des Saarlandes (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Data-Science) durchgeführt. Zudem forscht die DFB-Akademie gemeinsam mit der Sportec Solutions GmbH und dem Erstautor Laurie Shaw und der Harvard Sports Analytics Initiative an einer Weiterentwicklung des Ansatzes mit Evaluation von Praxisexperten.
Zusätzlich arbeitet ein Hackathon-Team an einer weiteren Challenge zum Thema Formationserkennung.
Die Inhalte basieren auf der Studie "Dynamic analysis of team strategy in professional football", die 2019 auf dem „Barça Sports Analytics Summit" veröffentlicht wurde, wo Laurie Shaw mit dem „Best-Paper-Award“ gekürt wurde.
Diese Studie teilen:
Literatur
- Shaw, L. and Glickmann, M. (2019). Dynamic analysis of team strategy in professional football. Barça Innovation Hub. Barca Sports Analytics Summit.Studie lesen