Spielanalyse

Offensivspiel

Der Torhüter als elfter Feldspieler und "Impulsgeber" im Offensivspiel!

Die Rolle des Torhüters hat sich in den letzten Jahren stark verändert. War er einst nur für die Verhinderung von Gegentoren verantwortlich, ist er mittlerweile auch im eigenen Spielaufbau zu einer unverzichtbaren Komponente geworden. Mit seinem Pass leitet er den nächsten Angriff ein und hat diesbezüglich die Möglichkeit, das Spiel zu beschleunigen oder auch zu beruhigen.

Statistik beweist: Viele Offensivaktionen

Fast drei Viertel aller Torwart-Aktionen bei der EURO 2020 lassen sich dem Offensivspiel mit dem Fuß oder der Hand zuordnen. Davon sind mehr als die Hälfte als 'anspruchsvolle' Aktionen kategorisiert. Das sind Situationen, in denen der Torwart unter Gegnerdruck agieren musste, gegnerische Linien überspielt hat oder vor technischen Herausforderungen stand.
Bei der Auswertung der Qualitätsaktionen im Offensivspiel fielen rund 71 Prozent auf die Spielfortsetzung nach einem Rückpass sowie 11 Prozent auf die Spielfortsetzung nach einer Defensivaktion. Die Spieleröffnung machte 14 Prozent der Aktionen aus, wohingegen 4 Prozent dem Umschaltverhalten zuzurechnen war. Die Analyse zeigt, dass die Offensivaktionen komplex sind und die Torhüter über variable Fähigkeiten verfügen müssen. Gerade die Beidfüßigkeit spielt eine wichtige Rolle und kann eine echte Waffe sein, um in einer Drucksituation die bestmögliche Lösung finden zu können.

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Spielaufbau flach

Der Torhüter kann als elfter Feldspieler dazu beitragen, Pressingsituationen aufzulösen. Mitspieler müssen die freien Räume im Rücken der anlaufenden Gegenspieler bewusst besetzen.

    1. Der Torwart (TW) ist in Ballbesitz und wird vom Gegner angelaufen. Dabei behält er die Ruhe und erkennt sowohl den Raum hinter den beiden vor ihm stehenden Angreifern als auch im Rücken des 'Anläufers'.

    2. Der TW hält den Ball für einen kurzen Moment und bindet so den 'Anläufer'. Zeitgleich bietet sich der zentrale Mittelfeldspieler (ZOM) im Raum hinter den beiden anderen Angreifern an und fordert ein Zuspiel.

    3. Durch das Binden des TWs haben sich die Gegner 'locken' lassen. Der TW spielt bewusst zum ZOM in den Druck, der die Spielsituation in den offenen Raum rund um freistehenden Außenverteidiger (AV) löst.

    4. Der AV befindet sich nun in einer Überzahlsituation und hat verschiedene Optionen zur zielgerichteten Spielfortsetzung.

Spielaufbau hoch

Anstatt mit einem Flachpass kann das gegnerische Pressing auch mit einem Flugball überspielt werden. Die Passqualität ist von großer Bedeuteung. Außerdem muss der Zielspieler in der Lage sein, den Ball zu sichern und den Raum für eine effektive Spielfortsetzung zu haben.

    1. Abstoß Italien: Der Gegner stellt vorne zu und hat mannorientierten Zugriff. Der Innenverteidiger eröffnet mit einem Pass zum Torwart (TW).

    2. Der TW nutzt einen neutralen Kontakt, mit dem er sich alle Optionen offen hält. Zwar ist eine kurze Lösung möglich, beispielsweise mit dem Außenverteidiger (AV), aber alle Gegenspieler sind auf dem Sprung, um den Ball zu attackieren und zu pressen. Der TW erkennt die Situation ...

    3. ... sowie den großen Raum vor der gegnerischen Abwehrkette und spielt einen präzisen Pass zum Stürmer (ST). Mit dem Flugball wurden sieben Gegenspieler überspielt. Der ST nutzt den Raum und nimmt zum Tor an und mit, während der Außenstürmer (AS) bereits die Linie entlang sprintet.

    4. Der ST nimmt die Situation wahr und passt zum AS, der nun mit Tempo ins 1 gegen 1 an der letzten Linie gehen kann – ausgelöst durch die Entscheidung des Torhüters.

Beidfüßigkeit

Der Torhüter wird immer wieder aus verschiedenen Positionen angelaufen. Beidfüßigkeit schafft Variabilität und ermöglicht dem Torhüter, sicht effektiver in den Spielaufbau zu integrieren. Torhüter, die nur einen starken Fuß besitzen, sind leichter auszurechnen.

    1. Rückpass zum Torwart (TW): Durch ein aktives Positionsmanagement verschafft er sich vorab Raum und Zeit zur Spielfortsetzung.

    2. Durch das Anlaufen des ballnahen Angreifers wird der TW jedoch auf seinen schwachen Fuß gelenkt. Er hat die Situation jedoch frühzeitig wahrgenommen, vertraut auf die Fähigkeiten mit seinem schwachen Fuß ...

    3. ... und verlagert das Spiel auf den freistehenden Außenverteidger (AV).

    4. Gegebenenfalls wäre hier der Pass auf den Stürmer (ST) die bessere und einfachere Lösung, doch die technische Qualität und Präzision des Passes ermöglicht dem Außenverteidiger die zielgerichtete Spielfortsetzung.

Notfalllösung

In einigen Spielsituationen ist der Pass auf den Torhüter der letzte Ausweg, einem drohenden Ballverlust zu entgehen. Allerdings erhält der Torhüter mit dem Pass auch gleichzeitig hohen Gegnerdruck. Die Notfalllösung ist dann ein langer Ball, der aber möglichst gezielt in die Tiefe gespielt werden soll. Idealerweise hat der Passempfänger die Zeit und den Raum, den Ball zu sichern oder ihn direkt in die Tiefe weiterzuleiten.

    1. Mit dem Rückpass löst der Gegner das Angriffspressing aus. Der Angreifer lenkt den Torwart (TW) bewusst auf seinen schwachen Fuß.

    2. Durch das konsequente Angriffspressing gibt es keine kurze Option zur Spielfortsetzung, da alle Gegenspieler Zugriff haben. Der TW steht unter Druck und spielt mit seinem schwachen Fuß einen langen Pass.

    3. Der Flugball landet beim Zielspieler an der letzten Kette, der das Zuspiel per Kopf verlängert. Zwei seiner Mitspieler erkennen die Absicht frühzeitig und starten in den Raum im Rücken der Abwehr, um den Ball zu erlaufen.

    4. Durch den Impuls haben beide Angreifer die Möglichkeit Druck auf das gegnerische Tor aufzubauen.

Impulsgeber

Der Torhüter kann das Tempo steuern und für wichtige Umschaltmomente sorgen. Nach einer erfolgreichen Abwehraktion besteht die Möglichkeit, mit einem tiefen Ball die Unnordnung des Gegners auszunutzen. Dafür benötigt der Torhüter alle entscheidenden Schuss-, Roll-, und Wurftechniken in seinem Repertoire. Die Effektivität der Aktion geht allerdings vor technischer Sauberkeit.

    1. Nach einer erfolgreichen Defensivaktion schaltet der Torwart (TW) umgehend auf Offensive um und läuft nach vorne. Dabei geht sein erster Blick sofort in die letzte Ebene.

    2. An der Strafraumgrenze spielt der TW mithilfe eines Hüftdrehstoßes einen Pass zum Mitspieler in die Tiefe.

    3. Der präzise und scharfe Pass landet nicht nur beim Mitspieler, sondern überspielt auch alle Gegenspieler.

    4. Dadurch kann die eigene Mannschaft sofort torgefährlich ins Angriffsdrittel eindringen – der Impuls des TWs war hierfür entscheidend!

Fazit

Es lohnt sich, den Torhüter aktiv in den Spielaufbau mit einzubinden. Die Vorteile:

  • das Angriffspressing flach überspielen
  • das Angriffspressing hoch überspielen
  • Planvolles Spiel auf den zweiten Ball
  • Umschaltmomente kreieren und nutzen

Die Königsdisziplin für einen Torhüter ist es, alle der genannten Lösungsvarianten bedienen und spielen zu können, denn das ermöglicht Variabilität und Unberechenbarkeit im Spielaufbau.