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Callsen-Bracker: "Neurozentriertes Training fördert die Leistungsfähigkeit"
Der ehemalige Bundesligaprofi Jan-Ingwer Callsen-Bracker kümmert sich seit dem 1. Oktober um einen neuen Bereich der DFB-Akademie - das Neurozentrierte Training. Der 35-Jährige erzählt im DFB.de-Interview mit Redakteur Tobias Bach, wie er zum Neurozentrierten Training kam und was es mit Basketball-Superstar LeBron James auf sich hat.
DFB.de: Herr Callsen-Bracker, sie sind nun rund zehn Wochen im Team der DFB-Akademie. Wie sind Ihre ersten Eindrücke?
Jan-Ingwer Callsen-Bracker: Noch sehr frisch, und auch sehr gut. Ich kümmere mich erstmal darum, im Fußball Akzeptanz für das Thema zu schaffen, die Neuroathletik vorzustellen und zum Teil auch Aufklärung zu betreiben. Mit der DFB-Akademie möchten wir das Thema voranbringen und anwendbar machen. Ich entwickle mit unseren Trainern und Fitness-Coaches der U-Nationalmannschaften konkrete Programme für die Praxis. Wir möchten die Neuroathletik bei den U-Teams anwenden. Im weiteren Austausch mit den Experten aus anderen Bereichen der DFB-Akademie überlegen wir, wie wir das Training und damit auch die Spieler weiterentwickeln können. Wir schauen auch, wo noch versteckte Potentiale in einem Spieler stecken. Es herrscht eine tolle Synergie in der Akademie mit den unterschiedlichen Kompetenzen. Da können wir gemeinsam tolle Sachen entwickeln.
DFB.de: Was muss man sich denn unter Neurozentrierten Training vorstellen?
Callsen-Bracker: Neurozentriertes Training zielt auf das zentrale und periphere Nervensystem. Wir verbessern die Bewegungsqualität durch gezielte sensomotorische Übungen. Dabei handelt es sich praktisch um die Weiterentwicklung des klassischen Trainings, indem Gehirn und Nervensystem als zentrale Elemente der Bewegungssteuerung vertiefend ins Training einbezogen werden. Neurozentriertes Training fördert die Leistungsfähigkeit und hilft daher bei der Verletzungsprävention sowie der Rehabilitation.
DFB.de: Ziel ist es, auch eine Art Lab aufzubauen. Was hat es damit auf sich?
Callsen-Bracker: Wir wollen das Thema Neurozentriertes Training in der DFB-Akademie aufbauen und auch wissenschaftlich begleiten. Dafür ist die objektive Diagnostik wichtig. Abhängig davon, was für einen Spieler individuell am meisten Sinn macht, müssen verschiedene Tools und Trainingsmöglichkeiten vorhanden und nutzbar sein. Egal, ob es um das gezielte Training der Augen, des Gleichgewichts, der Körperwahrnehmung, der Bewegung oder der Fußballtechnik geht. Das Gute beim Neurozentrierten Training ist, dass man es sowohl mit einfachen Mitteln umsetzen als auch wissenschaftlich überprüfbar mit High-Tech absolvieren kann.
DFB.de: Wie sind sie eigentlich auf das Thema aufmerksam geworden?
Callsen-Bracker: Aufgrund einer Verletzung durch Fremdeinwirkung zu Beginn meiner Karriere hatte ich jahrelang immer wieder und längere Verletzungsprobleme, obwohl ich alles dafür getan habe, gesund und leistungsfähig zu sein. Ich habe mich irgendwie immer nur durchgekämpft und es war eine Frage der Zeit, wann ich das nächste Problem bekomme. Ich war – in gewisser Weise – zunächst als etwas unbeweglicher und verletzungsanfälliger Spieler abgestempelt. Im Sommer 2011 habe ich an der Universität Bonn Lars Lienhard und das neuronale Training kennengelernt und dabei sehr viele für mich persönlich offene Fragen beantwortet bekommen. Obwohl ich dem ganzen Thema erst sehr skeptisch gegenüberstand, habe ich doch vom ersten Tag gespürt, dass dieses Training mir hilft. Ich habe mich beweglicher gefühlt und hatte mehr Kraft. Deswegen habe ich es als erster Bundesligaprofi in mein tägliches Training integriert und auch an freien Tagen mein Neurozentriertes Training konsequent absolviert.
DFB.de: Wie haben Ihre damaligen Mitspieler auf ihr angepasstes Trainingsprogramm reagiert?
Callsen-Bracker: Am Anfang gab es viele Mitspieler, die erstaunt geguckt haben und mir den einen oder anderen Spruch gedrückt haben (lacht). Während meiner Zeit in Augsburg haben sich zunehmend auch andere Spieler für dieses Training begeistert und damit angefangen. So kam es, dass eine kleine Gruppe in Augsburg zusammenkam. Wir zogen die Übungen vor oder nach dem Training durch, für uns alle war das Neuland. Aber alle Spieler konnten für sich Effekte erzielen und sind deswegen drangeblieben. Da waren uns die Sprüche egal, weil wir gemerkt haben, dass es gut für uns ist. Mittlerweile ist das mehr als acht Jahre her. Seitdem hatten wir in Augsburg immer einige Spieler, die freiwillig und erfolgreich in dem Bereich gearbeitet haben.
DFB.de: Wie kam es dazu, dass Sie währende Ihrer aktiven Karriere eine Ausbildung in dem Gebiet absolviert haben?
Callsen-Bracker: Mich hatte damals so eine Neugier und Leidenschaft für Thema gepackt, sodass ich mein Wirtschaftsstudium an der Universität Hagen gestoppt habe, um mehr Zeit für den neurologischen Ansatz zu haben. Die freie Zeit in Länderspielphasen oder in der Bundesliga-Sommerpause habe ich genutzt, um mich rund um das Thema Neurozentriertes Training weiterzubilden. Ich habe Online- und Präsenzveranstaltungen besucht, 2014 habe ich in Kopenhagen und Phoenix in den USA bei Dr. Eric Cobb meine ersten Abschlüsse gemacht. Dr. Cobb ist derjenige, der das Thema nach Europa gebracht hat. Seit 2011 beschäftige ich mich tagtäglich praktisch und theoretisch mit dem Thema. Wie gesagt, es ist neben dem Fußball meine zweite Leidenschaft geworden.
DFB.de: Welchen Stellenwert hat das Neurozentrierte Training bei Spitzensportlern heutzutage?
Callsen-Bracker: Ich war im Sommer in Florida und habe mir dort ein Neuro-Center angeschaut. In den USA setzen sie den Goldstandard und arbeiten seit 40 Jahren auf diesem Gebiet in der Neuro-Rehabilitation. Dort habe ich an der Wand sehr viele Danksagungen von vielen amerikanischen Spitzensportlern aus NBA, NHL und NFL gefunden, unter anderem auch von Lebron James, der während seiner Zeit bei den Miami Heat regelmäßig mit einem Neuro-Doc trainiert hat. In Deutschland gab es schon vor mir ein paar Wintersportler, die in dem Bereich aktiv waren. Ich nahm es als erster Bundesliga-Spieler auf. Per Mertesacker hat in seinem Buch ein ganzes Kapitel dem Neurozentrierten Training gewidmet. Er ist der Auffassung, dass es seine Karriere verlängert hat. Serge Gnabry und Sami Khedira sind zwei weitere Beispiele, die auch schon länger neurozentriert trainieren. Stark vertreten ist das Thema aktuell in der Leichtathletik, da die Sportler es dort gewohnt sind, individuell zu arbeiten. In Einzelsportarten ist das Bewusstsein für Detailarbeit noch viel stärker ausgeprägt und die Messbarkeit der Effekte ist dort viel größer als im Fußball. In der Leichtathletik und im Wintersport ist Neurozentriertes Training schon eher in den Verbänden angekommen. Mit Akteuren aus diesen Sportarten habe ich mich in der Vergangenheit intensiv ausgetauscht. In der praktischen Anwendung sind sie den Fußballern durch das tägliche Einzeltraining noch voraus.
DFB.de: Bundestrainer Joachim Löw sprach das Thema "Kognition" bereits vor mehr als einem Jahr an. In den U-Nationalmannschaften des DFB soll Neurozentriertes Training nun punktuell eingebaut werden. Wie wird das konkret aussehen?
Callsen-Bracker: Erst einmal geht es darum, Akzeptanz und Bewusstsein für das Thema „Gehirn als zentrale Steuereinheit“ zu schaffen. Ich spreche mit unseren Trainern, Ärzten und Physios. In den U-Teams haben wir auch schon Fitness-Trainer, die sich in dem Bereich aus eigenem Antrieb fortgebildet haben. Alle sind sehr offen und interessiert, wenn es um das Thema geht. Natürlich gehe ich auch selbst das Training mit Spielern an. Ob als Aktivierung vor Training und Partien oder im Einzeltraining. Zuletzt war ich mit Manuel Baum (aktueller U 20-Nationaltrainer, Anm. d. Red.), den ich noch als Trainer aus meiner Zeit beim FC Augsburg kenne, bei der U 20 mit dabei. Das hat sehr gut gefruchtet. Der Austausch mit den Betreuerstab und den Spielern der U 20 war total positiv. Aus diesen gemeinsamen Lehrgängen konnten wir vieles für die weiter Implementierung mitnehmen.
DFB.de: Es gibt immer noch Experten, die an dem Nutzen des Neurozentrierten Trainings zweifeln. Was entgegnen Sie solchen Stimmen?
Callsen-Bracker: Ich habe die Effekte und Verbesserung in den Handlungsfeldern Leistungssteigerung, Prävention und Rehabilitation am eigenen Leib erfahren. Neurozentriertes Training ist ein sehr individueller Ansatz. Das Training wird entweder für jeden einzeln angepasst, um die individuellen Defizite im Bewegungsablauf zu verbessern oder um gesunde, bewegungssteuernde Systeme bewusst zu stressen. Es soll eine Adaption erreicht werden. Es ist kein Training, dass nach dem Prinzip "One-size-that-fits-all" funktioniert. Es gibt nicht die eine Übung, die für alle gut ist, oder das eine Tool, das allen sofort weiterhilft. So einfach ist es nicht. Jeder Athlet ist extrem individuell und es ergeben sich unterschiedliche Anforderungen in der Trainingsgestaltung. Deshalb bedarf es einer guten Diagnostik, um festzustellen, wo die tatsächliche Ursache eines Problems liegt. Die bisherigen Erfahrungen und Erfolge zeigen das wir auf dem richtigen Weg sind.