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Medien Meetup 2020
Oliver Bierhoff: "Das Credo lautet: entwickeln statt selektieren"
Bierhoff über Talentförderung: "Entwickeln statt selektieren"
"Zurück an die Weltspitze" – an der Ambition des DFB mit seiner Direktion Nationalmannschaften und Akademie hat sich nichts geändert. Die Maßnahmen und Impulse, das vor einem Jahr ausgerufene Ziel zu erreichen, werden ständig weiterentwickelt. Denn es soll sichergestellt werden, dass der deutsche Fußball auch noch in 15 Jahren absolut wettbewerbsfähig ist.
Vor einem Jahr stellte die Direktion unter Leitung von Oliver Bierhoff beim letzten Medien-Talk in der Commerzbank-Arena in Frankfurt am Main seine Konzepte und damit verbundene Köpfe vor. Beim aktuellen Medien-Talk 2020 im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund wurden die Inhalte rund um die Nationalmannschaft, Junioren-Teams - inklusive "Projekt Zukunft" –, DFB-Akademie sowie Frauenfußball besprochen. "Nach einem Jahr der kritischen Analyse, der Weichenstellung und mutiger Schritte", sagte Bierhoff.
"Wir haben weitere Maßnahmen erarbeitet, die die persönliche Entwicklung der Spieler in den Mittelpunkt stellen, die die Individualität bei der Aus- und Weiterbildung unserer Trainer und Experten fördern und die die Förderstrukturen und Wettbewerbsformen betreffen", sagte Bierhoff.
Auf diesem Weg soll der deutsche Fußball wieder zurück an die Weltspitze gelangen. Jede Abteilung der Direktion leistet dazu einen entscheidenden Beitrag. Ein gutes Beispiel für die enge Verzahnung innerhalb der Abteilungen war das Trainingslager der U 16- und U 17-Nationalmannschaft im Januar. Die Trainer arbeiteten mit den Talenten auf dem Platz, das Teammanagement sorgte für optimale Rahmenbedingungen, die DFB-Akademie brachte sich mit ihren Experten aus Ernährung und Neuroathletik ein und die Medienabteilung führte eine Social-Media-Schulung für die Jugendlichen durch. In U 21-Trainer Stefan Kuntz, der ein Stürmer-Training konzipierte, und Manuel Baum, der bei der Analyse half, waren weitere U-Trainer eingebunden.
"In den Jahrgängen bis 1999 sind wir gut bestückt"
Das oberste Ziel ist es, Spieler und Trainer weiterzuentwickeln. Und das alles im Zusammenspiel mit der DFB-Akademie als Wegbereiter und Impulsgeber. "Aktuell sind wir bis zur EURO 2024 in den Jahrgängen 1995 bis 1999 noch gut aufgestellt. Aber wir haben ganz klar warnende Tendenzen ausgemacht – besonders in den jüngeren Jahrgängen. Dort zeichnet sich ein anderes Bild ab", sagte Bierhoff. "Wir haben klare Anzeichen, dass wir uns wirklich massiv bewegen müssen im deutschen Fußball. Daher befassen wir uns schon heute frühzeitig und intensiv mit den Gefahren eines drohenden Leistungsabfalls ab 2025. Wir müssen unsere Spieler besser ausbilden. Das Credo lautet: entwickeln statt selektieren."
In der Vergangenheit geschah diese Selektion zu früh. Die jungen Spieler hatten zu wenige Freiräume auf und neben dem Platz für die individuelle Entwicklung. Damit soll jetzt Schluss sein. Zudem fehlt es den jungen Spielern in Deutschland an Spielmöglichkeiten auf höchstem Niveau. Der jüngste Sportreport der Deutschen Fußball Liga (DFL) belegt dies. In der Hinrunde der laufenden Saison waren lediglich drei Prozent der eingesetzten Profis deutsche U 21-Spieler. Diese Zahl, stellte Joti Chatzialexiou, Sportlicher Leiter Nationalmannschaften, fest, "ist alarmierend".
Zusammenarbeit mit DFL und Vereinen
Im Rahmen des "Projekt Zukunft" arbeiten der DFB und seine Direktion Nationalmannschaften und Akademie in Partnerschaft mit der Deutschen Fußball Liga (DFL) an umfassenden Maßnahmen, mit denen diesen warnenden Tendenzen im deutschen Fußball proaktiv entgegengewirkt wird. Dabei stehen der Kinder- und Jugendfußball, die Spitzensportförderung, die Persönlichkeitsentwicklung von Spielern und Trainern sowie die Förder- und Wettbewerbsstrukturen im Mittelpunkt.
"Die Zusammenarbeit zwischen DFB, DFL und Vereinen hat sich enorm verbessert, sie ist ehrlich und konstruktiv, wir wollen gemeinsam an einem Strang ziehen. Es wissen alle, dass etwas passieren muss", sagte Bierhoff. "Die Maßnahmen, die wir jetzt angehen, werden aber wohl für die 18-Jährigen von heute zu spät sein. Wir müssen uns bewusst sein, dass es eine Delle geben wird."
Spürbar wird das auch schon für U 21-Trainer Stefan Kuntz, der zum Sichten von Spielern immer öfter in der 2. Bundesliga und dem Ausland unterwegs ist. "Der Pool der Spieler, aus dem wir schöpfen können, ist geringer als noch im vergangenen EM-Zyklus", so Kuntz. Für Joti Chatzialexiou ist klar, dass Druck aus dem System genommen werden muss
Neben der Talententwicklung der Spieler ist die Trainerausbildung ein weiterer wichtiger Aspekt. "Für uns gilt, dass der Trainer der Schlüssel ist. Es gibt nicht mehr den einen Trainer, der alles weiß. Wir haben in unseren U-Nationalmannschaften im Trainerteam immer den Typ Erfahrung, den Typ Innovation und den Typ Altersspezialisten", erklärte Chatzialexiou. "Dadurch bringen wir verschiedene Perspektiven und Expertisen zusammen, die Spieler profitieren davon."
Der Fußball-Lehrer-Lehrgang ist bereits 2019 unter dem Dach der DFB-Akademie inhaltlich und konzeptionell überarbeitet worden. Er ist ortsunabhängiger, praxisbezogener und individueller denn je gestaltet. "Wo wir schon marschieren können, da marschieren wir auch. In einigen anderen Bereichen brauchen wir aber Geduld", sagte Bierhoff.
Frauenfußball profitiert von Impulsen
Diese anzustoßenden Entwicklungen sind nicht allein auf den Männerfußball beschränkt. Auch der Frauen- und Mädchenfußball soll von neuen Impulsen profitieren. Es wird in Synergien gedacht. Dazu gehören beispielsweise die Stärkung der Strukturen im Frauenfußball, die Erhöhung der öffentlichen Wahrnehmung, eine Optimierung der Talent- und Spitzenförderung sowie altersgerechte Angebote für Frauen und Mädchen. "Mit Joti Chatzialexiou haben wir im Frauenfußball erstmals einen übergeordneten Ansprechpartner, der nicht gleichzeitig eine Mannschaft verantwortet – wie es früher die Bundestrainerin leistete", sagte Britta Carlson, Co-Trainerin der Frauen-Nationalmannschaft und Koordinatorin Juniorinnen-Nationalmannschaften.
Besonders die Zusammenführung der Trainerstäbe und des Team-Managements war ein immenser Fortschritt. Der Frauenfußball profitiert von Funktionen, Schnittstellen und Austausch mit den Kollegen der Männer-Teams. Aber auch die Männer profitieren von dem gegenseitigen Austausch mit den Frauen. Bestes Beispiel dafür ist die Hospitation im kommenden März von Carlson bei der "männlichen" U 20 von Manuel Baum.
"Im Kinderfußball dürfen wir nicht zwischen Mädchen und Jungs unterscheiden", mahnte Carlson. Aber sicher werden die kleineren Teams auch den Mädchen helfen, in leistungshomogenen Teams gegeneinander anzutreten.
DFB-Akademie: Umsetzungsmotor des Projekts Zukunft
Mit der DFB-Akademie verfügt der Verband über eine im internationalen Fußball bisher einzigartige Institution, die für die deutschen Vereine maßgeschneiderte Aus- und Weiterbildungsprogramme, Expertentreffen für Sportdirektoren und Trainer sowie Netzwerkveranstaltungen und -reisen anbietet.
"Praxis und Theorie unterstützen sich gegenseitig", sagte Bierhoff. Ein gutes Beispiel dafür ist der vor wenigen Wochen gestartete zweite Hackathon der DFB-Akademie, bei dem Spielanalysten, Datenwissenschaftler und Trainer zusammenkommen. Ihr verbindendes Thema: Sturm und Angriff. Anhand von positionsspezifischen Daten wollen sie Übungen ableiten, wie man noch bessere Stürmer ausbilden kann und was es wirklich braucht, um zum Torerfolg zu kommen.
Dass die DFB-Akademie auch die Sportdirektoren und Manager der Vereine zusammenbringt, zeigte sich bei der Leadership-Reise in die USA und dem Leadership Festival. Beide Veranstaltungen waren Höhepunkte im vergangenen Jahr. "Das war für unser Zusammenspiel mit Entscheidern und Klubs ein voller Erfolg. Daher werden wir in diesem Jahr zwei Reisen ebenfalls mit dem Fokus Leadership anbieten", sagte Akademie-Leiter Tobias Haupt. Bei der USA-Reise und beim Leadership Festival in Frankfurt wenige Tage später kamen nicht nur Sportdirektoren, Manager und Trainer aus der Bundesliga zusammen, sondern es wurde bewusst auch ein Blick über den Tellerrand gesucht, um aus anderen Wissensfeldern zu lernen. Denn jeder Prozentpunkt hilft auf dem Weg "zurück an die Weltspitze".
Das gilt neben dem sportlichen Leitbild auch für ein gemeinsames Wertefundament. Dies soll Nationalspielern – egal, ob Junioren, Frauen oder Männer – eine bessere Orientierung geben. Daher entsteht unter Beteiligung der einzelnen Mannschaften und Spielern ein Wertekodex unter dem Motto "Nationalspieler bist Du immer!". Der Kodex soll von der U 15 bis hin zum A-Team der Männer und Frauen gelten. Fixpunkte sind dabei Werte wie Toleranz, Verantwortung und Wertschätzung. Denn auch das Auftreten neben dem Platz trägt zum Erfolg bei.