Philosophie

In den letzten Jahren haben sich die praktischen Anwendungen von funktionaler Neurologie und Neurowissenschaften als wertvolle Unterstützung im Sport erwiesen und beginnen sich zunehmend auch im Spitzenfußball zu etablieren. Der neurozentrierte Ansatz stellt das Gehirn und das Nervensystem in den Mittelpunkt des Trainings und kann dazu beitragen,  die Bewegungsqualiät der Sportler*innen nachhaltig und effektiv verbessern.

Warum wir neurozentriert trainieren

Das neurozentrierte Training bietet verschiedene Interventionsmöglichkeiten. Mit diesen verfolgt die DFB-Akademie DFB-Akademie vor allem drei Ziele:

Leistungsförderung

Effektivere Wahrnehmung und Verarbeitung von sensorischen Reizen sowie die Verbesserung der Fähigkeit, sich koordiniert, präzise und schnell bewegen zu können.

Schnellere Rehabilitation

Die sensorische Wahrnehmung und Verarbeitung kann durch Verletzungen gestört sein. Dies wird durch neurozentriertes Training aufgearbeitet und wiederhergestellt.

Deutsche Frauen-Nationalmannschaft
Prävention von Verletzungen

Durch das besseres Einschätzen und Antizipieren, z.B. von Zweikämpfen, verringert sich das Risiko für Verletzungen. Auch jene, die durch Ermüdung und Über-, bzw. Fehlbelastung entstehen, werden durch eine effizientere Bewegung unwahrscheinlicher.

Interview

3 Fragen an Jan-Ingwer Callsen-Bracker

Der Experte der DFB-Akademie berichtet über den großen Mehrwert von Neurozentriertem Training im Hochleistungsfußball.

Unser Gehirn ist das zentrale Steuerorgan aller Bewegungen und Gedanken. Somit ist es auch für unsere fußballerischen Leistungen und Fähigkeiten verantwortlich. Wissen über neuronale Funktionsweisen hilft uns, an den Schlüsselstellen unserer Leistung zu trainieren und so bessere sportliche Ergebnisse zu erzielen. In welcher Art und Weise sich unser Gehirn weiterentwickelt, können wir durch gezieltes Training bewusst beeinflussen. Dabei müssen wir beachten: Jedes Gehirn ist einzigartig wie ein Fingerabdruck. Somit müssen auch die Übungen individuell auf den jeweiligen neuronalen Status quo und die Struktur des Nervensystems abgestimmt sein. Dadurch lassen sich Limitierungen aufheben und die Bewegungsqualität des Sportlers verbessern. 

Das Nervensystem verarbeitet jeden Stimulus sofort und zeigt eine Reaktion darauf. Aus dieser Reaktion, die der Körper auf die gesetzten Reize zeigt, können direkt Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der vorangegangen sensorischen Übungen gezogen werden. Bei Plateaubildung in der Entwicklung oder anhaltenden körperlichen Problemen (z.B.: zu hoher Muskeltonus oder Schmerzen) kann ein genauerer Blick auf die Sinnesorgane und deren Reizwahrnehmung und Verarbeitung hilfreich und effektiv sein.

Wir verbessern die Bewegungsqualität durch gezielte sensomotorische Übungen.
Jan-Ingwer Callsen-BrackerExperte der DFB-Akademie im Bereich neurozentriertes Training

Neuronale Plastizität

Das Gehirn steht im Mittelpunkt aller Betrachtungen. Bis heute ist die Funktion unseres Steuerorgans nicht vollständig erforscht und in der Komplexitität kaum zu beschreiben. Sicher ist jedoch: es lernt und verändert sich ständig. Das ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das Gehirn ist darauf ausgelegt, sich immer wieder neu anzupassen. Das heißt, es ist trainier- und formbar – und wir können durch unser tägliches Training bestimmen wie. Wenn unser Gehirn und Nervensystem entwickelbar ist, dann sind es unsere fußballerischen Fähigkeiten auch. 

Nicht optimale, ineffiziente  Bewegungsabläufe, Techniken, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster können unsere sportliche Leistung und Entwicklung hemmen. Als Ursachen kommen sensorische Defizite oder ungünstige Gewohnheiten in Frage. Wenn das Zusammenspiel unserer Systeme nicht perfekt funktioniert, merken wir das nicht unbedingt, da unser Gehirn vieles zunächst kompensieren kann. Das Gehirn möchte so effizient und sparsam wie möglich arbeiten und automatisiert nach einer gewissen Zeit seine Abläufe und Gewohnheiten. Deshalb ist es nicht einfach, seine erlernten Muster zu verändern. Für Veränderung braucht das Gehirn mehr Ressourcen und Energie. Das Prinzip, ständig zu lernen und sich verbessern zu wollen, sollte zur Gewohnheit werden. Denn durch ständiges Lernen werden wir im Lernen besser.

Sind wir ineffizient in unserer Wahrnehmung, in der Verarbeitung von Informationen oder in unseren Handlungen, sei es durch sensorische Defizite oder ungünstige Gewohnheiten, verfestigen wir falsche Bewegungsabläufe und Techniken. Diese führen zu Blockaden in unserer sportlichen Entwicklung. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Doch sie macht uns klar, wie entscheidend die Gesundheit und Grundlage der sensorischen Verarbeitung ist. Wir können auch sehr gut im Kompensieren werden, doch das ist viel anstrengender und dadurch nicht so effizient.

Interview

"Ich wurde für viele Übungen belächelt"

Jan-Ingwer Callsen-Bracker spricht im Kicker-Interview über seinen Fachbereich.

Unser Experte Jan-Ingwer Callsen-Bracker

Jan-Ingwer Callsen-Bracker
Jan-Ingwer Callsen-Bracker

Neurozentriertes Training

Der 169-malige Bundesligaspieler kam während seiner Karriere mit den Prinzipien des Neurozentrierten Trainings in Kontakt. Er entdeckte die Vorteile in der Verletzungsprävention und der Rehabiliation, die ihm dabei halfen, gesund und leistungsfähig zu bleiben und seinen Körper gezielter auf die Anforderungen des Profifußballs auszurichten. Als Praktiker fand er Zugang zu der Wissenschaft und gibt seine Erfahrung nun als Experte weiter.

Senkrechstarter in den Profifußball

Mit nur 18 Jahren debütiert Jan-Ingwer Callsen-Bracker für Bayer 04 Leverkusen in der Champions League gegen Newcastle United. Die ersten Einsätze in der Fußball-Bundesliga ließen auch nicht lange auf sich warten. Zudem spielte er auch in mehreren U-Nationalmannschaften des DFB.

Frühe Probleme mit Verletzungen

Eine Verletzung durch Fremdeinwirkung in Leverkusen im Jahr 2003 ist der Anfang. Callsen-Bracker hat im Laufe der folgenden Jahre immer wieder aufgrund von Kompensationsmustern Beschwerden und wird Dauergast beim Physiotherapeuten.

Wenig Spielzeit in den kommenden Jahren

Eine Szene mit Seltenheitswert: Callsen-Bracker im Trikot der Borussia. Von Sommer 2008 bis Januar 2011 stand er bei den Fohlen unter Vertrag, absolvierte in der Zeit aber nur elf Bundesligaspiele. Wiederkehrende Verletzungen bremsten ihn immer wieder aus.

Comeback und erfolgreiche Zeit in Augsburg

Im Sommer 2011, sechs Monate nach seinem Wechsel zum FC Augsburg, wurde Callsen-Bracker auf neurozentrierte Trainingsansätze aufmerksam. Er entwickelte ein neues Körpergefühl, seine Bewegungsqualität verbesserte sich. Fit und leistungssstark erlebte er mit dem FCA erfolgreiche Jahre.

Tatort Belgrad: Nächster Rückschlag

Bis in die Europa League stürmt Callsen-Bracker mit den Augsburgern. Im Dezember 2015 endet jedoch beim Auswärtsspiel in Belgrad seine persönliche Erfolgsgeschichte. Nach einem Foul bricht das Wadenbein und das Sprunggelenk wird zerstört: Knorpelabscherrung, Bänderruptur, Knochenmarksödem und die Schädigung sensibler Nervenfasern.

Der lange Weg zurück auf den Platz

Die nächste Leidenszeit beginnt. Ein Jahr lang kann Callsen-Bracker nicht schmerzfrei laufen. Aber anstatt in die Sportinvalidität zu gehen, kehrt er gegen die Prognosen vieler Ärzte nach 17 Monaten auf den Bundesligarasen zurück. Das neurozentrierte Training war auf diesem Weg ein wichtiger Begleiter.